Der Tagungsort der DGSKA repräsentiert alle diesjährigen Themen: Die Hansestadt Bremen, zweitgrößter Hochseehafen Deutschlands, steht mit ihrer maritimen Geschichte für den Aufstieg und die Paradoxien des globalen Handels und für die Geschichte des Kolonialismus. Der deutsche Überseehandel nahm seit dem 16. Jahrhundert von hier aus Fahrt auf, wobei Beziehungen zu anderen Gesellschaften meist als Eroberung von Natur und Menschen verstanden wurden. Im Bremer Überseemuseum manifestieren sich diese Verflechtungsgeschichten und die Verbindungen zwischen ehemaliger Völker-, Handels- und Naturkunde bis heute. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Bremen und Bremerhaven zur zentralen Drehscheibe deutscher und europäischer Auswander*innen nach Nordamerika. Verbindungen über das Meer zu suchen und Handelsbeziehungen aufzubauen geht seit langem mit der Zirkulation von Menschen, Waren und Mikroben, mit europäischer Inbesitznahme und Ausbeutung einher. Heute ist das einst reiche Bremen eine diverse, sozial gespaltene und post/koloniale Stadt, die sich mit den Effekten der von hier ausgehenden Globalisierung wie Klimawandel, Migration oder Pandemien genauso auseinandersetzen muss wie alle anderen Orte auf der Welt auch. Einst waren es die Bremer Stadtmusikanten, die hierher kamen um etwas Besseres als den Tod zu finden und aus prekären Umständen ein Leben zu machen. Was es braucht, damit lebenswerte Welten entstehen, wie sie atmosphärisch belebt werden und welche neuen Zonen und Grenzen etabliert werden – für solche und weiterführende, mit diesen Problemstellungen verbundene, offene Fragen steht die Bremer Tagung.

Mit einem hohen Anteil prekär lebender Einwohner*innen und industriekapitalistisch verödeter Landschaften und Wirtschaftsruinen ist Globalisierung in Bremen täglich präsent. Globalisierung bedeutet ganz konkret die Umsetzung von globalen Abhängigkeits- und Ungleichheitsbeziehungen vor Ort, wo sich die lange Geschichte ihrer Verflechtungen manifestiert. Neben den frappanten Unterschieden von Arm und Reich ist Bremen auch zum Symbol von Solidarität geworden, so wie im Märchen der Stadtmusikanten es die Tiere sind, die aus prekären, bedrohlichen Lebensumständen Bremen zu ihrem Sehnsuchtsort küren, die sich zusammenschließen und durch kluges Handeln einen sicheren Heimathafen finden. Als Küstenstadt ist Bremen mit seinen Infrastrukturen des Wassers auf ganz besondere Weise dem Klimawandel und dem Anstieg des Meeresspiegels ausgesetzt. Das Anthropozän von Bremen aus zu denken, beginnt mit der Frage, welche Welten die Bewohner*innen aus ihrer lokalen Perspektive finden und erfinden, und wie sich diese Weltentwürfe manifestieren und verändern.

Ausgangspunkt ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept des Anthropozäns, das unsere Gegenwart als kontaminierte Epoche beschreibt. Das Anthropozän markiert den Beginn einer Zeitrechnung, in der die Menschheit zu einer zerstörerischen Kraft geologischen Ausmaßes geworden ist und sich gleichermaßen gezwungen und befähigt sieht, die Aushandlung der Zukunft unseres Planeten selbst in die Hand zu nehmen. Das Anthropozän wirft Fragen nach der Vielzahl von Welten auf dem einen Planeten auf und schafft ein Bewusstsein für bewohnbare und zunehmend unbewohnbare Zonen. Die breite und kontroverse Debatte über den zeitlichen Beginn und den analytischen Gehalt des Begriffs und die in ihm implizit enthaltenen Annahmen verweist deutlich darauf, dass Vorstellungen der „einen Welt“, die wir alle gemeinsam bewohnen, problematisch sind. Kolonialismus und Kapitalismus, die industrielle Revolution oder technologische Verheerungen wie die Atombombenversuche haben überall Erschütterungen und Beben und die Angst vor Massenauslöschung und fortwährenden Klima- und Umweltkatastrophen ausgelöst. Flucht und Migrationsbewegungen, Klimawandel und Ausbeutung, Pandemien und Ungleichheit haben sich als Phänomene des Anthropozäns verstärkt. Sie bringen neue und unterschiedliche Konfigurationen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen hervor. Die Erkundung dieser Vielfalt ist eine der Hauptaufgaben der Kultur- und Sozialanthropologie, die nicht die Zukunft der einen Welt im Auge hat, sondern die Komplexität und Vielfalt neu entstehender entanglements und assemblages, der Entstehung einer Vielzahl von Welten, Atmosphären und Zonen.

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Anthropozäns manifestiert sich in der Sozial- und Kulturanthropologie in neuen epistemologischen und ontologischen Ansätzen, die eine neue Aufmerksamkeit für die Verheerungen unseres Planeten und für die Verflochtenheit unterschiedlicher Lebensformen fördern. Die Bremer Tagung will die Beiträge der Sozial- und Kulturanthropologie zu diesen Debatten über anthropos / den Menschen als inhärenten Teil aller NaturenKulturen, in seiner Zentralität wie Dezentrierung und in seinen Beziehungen und Gefügen mit anderen Lebewesen sichtbar machen und weiterentwickeln. Sie beschäftigt sich mit den Erschütterungen, die der Kapitalismus in allen Teilen der Welt hinterlässt und fragt danach, wie sich die Menschen in diesen Ruinen einrichten, welche Überlebensstrategien sie entwickeln, und welche neuen Lebenswelten und Kosmologien sie hervorbringen. Es entstehen andere, mehr-alsmenschliche Verbindungen in prekären Landschaften, und aus Situationen des Mangels oder Kampfes um begrenzte Ressourcen entwickeln sich erweiterte Formen politischer Beziehungen und massive Neubestimmungen des Politischen. Sozial- und Kulturanthropolog*innen richten den Blick auf die Vielfalt und die Strategien, die ein Überleben von Menschen ermöglichen und beschreiben, wie menschliche und nichtmenschliche Akteure ganz neue Welten schaffen oder sich bestehende aneignen, sie affektiv formen und verändern, also sehr spezifisch ausgestalten und beleben. Nicht die Reduktion von Komplexität steht im Zentrum, sondern die Vielfalt der mehr-als menschlichen Verbindungen, die ethnographische Wirklichkeiten informieren. In den Kontaktzonen ereignet sich ethnologische Forschung und dokumentiert mit seismographischer Genauigkeit, wie sich Stimmungen und Lebensgefühle, also die Atmosphären vor Ort wandeln oder dominanten Einflüssen widersetzen. Als Fach mit interdisziplinärer Schlüsselstellung steht die Ethnologie vor der Aufgabe, solche Prozesse des worlding und WeltenMachens im Gefüge der Infrastrukturen und der offenen Beziehungen zu anderen Lebewesen in die komplexe Beschreibung und Analyse des Anthropozäns einzubringen.

Vor diesem Hintergrund sind die Tagungsteilnehmer*innen eingeladen, mit ihren Beiträgen die Erschütterungen dieses neuen geologischen Zeitalters mit der seismographischen Genauigkeit der Ethnograph*innen zu dokumentieren. Dabei dient die Seismographie – eigentlich eine naturwissenschaftliche Methode zur Aufzeichnung von Bodenbewegungen – als Metapher, die auf die Sichtbarmachung und Wahrnehmbarkeit von schwer fassbaren, „unterirdischen“ oder verdrängten, Zusammenhängen und Erschütterungen zielt. Im Anthropozän ist die Sozial- und Kulturanthropologie aufgefordert, ihr Sensorium auf belebte und unbelebte Welten auszudehnen und sich in dieser Weise "seismographisch" zu betätigen. Gleichzeitig geht es auch darum, neue Formen des Austauschs und der Kollaboration mit Menschen und mit mehr-als-menschlichen Lebewesen zu finden. In der ethnographischen Beschäftigung mit Aspekten des krisenhaften, prekären Lebens erfahren wir die grundlegende Unsicherheit unserer Seinsweisen. Partizipative und kooperative Feldforschungsmethoden zeugen von dieser Unsicherheit, mit der wir den Anderen begegnen, von dem veränderten Blick, der nicht mehr in erster Linie die ganze Welt einfangen, sondern diverse Erfahrungen und Sichten auf bebende, sehr bewegte Welten aufzeichnen will.

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Wir laden hiermit alle Mitglieder der DGSKA sowie die Arbeits- und Regionalgruppen ganz herzlich dazu ein, Vorschläge, thematische Ideen und übergreifende Fragestellungen für die drei Hauptformate der DGSKA-Tagung in Bremen (bis zum 15.9.2020) einzureichen:

A. Thematische Workshops mit maximal 2 Zeitfenstern à 90 min (pro Zeitfenster = 4 Referent*innen; höchstens 8 Sprecher*innen, 2 Moderator*innen)

B. Roundtables zu kontroversen Fragen und Debatten - mit maximal 1 Zeitfenster à 90 min, und höchstens 7 geladenen, gerne auch internationalen Teilnehmer*innen, und 2 Moderator*innen.

C. Labs, in denen experimentelle Formate erprobt werden sollen: Das umfasst sowohl thematisch innovative „Querdenkereien“, als auch Vorhaben, die methodisch-didaktisch neue Wege gehen. Wie bei den Workshops gibt es hier 1 oder maximal 2 Zeitfenster à 90 min, angeboten durch höchstens 2 Moderator*innen bzw. Organisator*innen.

Alle Formate schlagen Sie bitte in einer max. 2.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) langen Beschreibung vor, die einen aussagekräftigen Titel und die Kontaktdaten der oder des Einreichenden enthalten. Bei der Beantragung eines Roundtables begründen Sie bitte, warum das Thema oder das Diskussionsziel spezifisch für dieses Format geeignet ist. Bei Vorschlägen für Labs muss in der Bewerbung auch das zeitlich-räumlich-partizipative oder kollaborative Design sichtbar werden. Deadline für das Einreichen von Workshop-, Roundtable- und Lab-Vorschlägen ist der 15.9.2020. Senden Sie alle Vorschläge bitte an folgende Emailadresse:

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Damit alle Workshop-Sitzungen, Labs und Roundtables von einer ausreichend großen Zahl von Teilnehmer*innen besucht werden können, behalten sich die Tagungsorganisator*innen vor, die Zahl der Workshops, Labs und Roundtables insgesamt zu begrenzen. Außerdem gilt in Bezug auf Vorträge, Workshop-, Labund Roundtable-Organisation und Funktion als Diskutant*in die „Zwei-RollenRegel“: Jede*r Tagungsteilnehmer*in kann nur in maximal zwei Kategorien (Vortrag, Diskutant*in, Workshop-, Lab- bzw. Roundtable-Organisation und - Moderation) Aufgaben übernehmen, eine doppelte Funktion in der gleichen Kategorie ist ausgeschlossen.